31.03.2014

Keine Kündigung eines „Whistleblowers“

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat entschieden, dass die fristlose Kündigung einer Altenpflegerin nach ihrer Strafanzeige gegen ihren Arbeitgeber wegen Mängeln in der Pflege ungerechtfertigt war.

Entscheidung des EGMR vom 21.07.2011, Az.: 28274/08

Die Beschwerdeführerin war als Altenpflegerin bei einem öffentlich getragenen Pflegedienst beschäftigt. Sie wurde 2005 entlassen, nachdem sie Strafanzeige wegen Betruges gegen ihren Arbeitgeber erstattet hatte, mit der Begründung, Pflegebedürftige und ihre Angehörigen erhielten wegen Personalmangels keine angemessene Gegenleistung für die von ihnen getragenen Kosten. Die Beschwerdeführerin und ihre Kollegen wiesen die Geschäftsleitung zwischen Januar 2003 und Oktober 2004 mehrfach darauf hin, dass das Personal überlastet sei und seinen Pflichten nicht nachkommen könne; darüber hinaus würden Pflegeleistungen nicht korrekt dokumentiert.

Durch den Medizinischen Dienst der Krankenkassen sind bei dem Arbeitgeber wesentliche Mängel in der Pflege festgestellt worden. Trotz weiterer Aufforderungen, diese Mängel abzustellen, hat der Arbeitgeber keine Änderung der Verhältnisse vorgenommen. Die Beschwerdeführerin stellte daraufhin im Dezember 2004 Strafanzeige.

Der Arbeitgeber kündigte der Beschwerdeführerin aufgrund deren wiederholter Krankheit zum 31.03.2005. Da die Beschwerdeführerin die Verhältnisse bei ihrem Arbeitgeber öffentlich auch mittels Flugblattaktionen bekannt machte, erfuhr der Arbeitgeber von der Strafanzeige. Daraufhin kündigte der Arbeitgeber das Arbeitsverhältnis fristlos.

Hiergegen klagte die Beschwerdeführerin. Das ArbG gab ihr Recht, das LArbG hob die Entscheidung wieder auf. Es läge in der Strafanzeige ein „wichtiger Grund" vor, welcher die fristlose Kündigung rechtfertige. Das BAG bestätigte die Entscheidung des LArbG. Das BVerfG nahm die hiergegen gerichtete Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung an.

Der EGMR hat die Kündigung als ungerechtfertigt angesehen.

Die Kündigung und die Entscheidung der deutschen Gerichte stellen einen Verstoß gegen Art. 10 EMRK (Freiheit der Meinungsäußerung) dar.

Nach der einschlägigen Rechtsprechung der deutschen Gerichte kann eine Strafanzeige gegen einen Arbeitgeber eine Kündigung rechtfertigen, wenn sie eine erhebliche Verletzung der Loyalitätspflicht darstellt. Gegen dieses Interesse des Arbeitgebers waren vorliegend die Interessen der Öffentlichkeit an Information über die Mängel der Pflege ins Verhältnis zu setzen. Dies insbesondere aus dem Gesichtspunkt, dass die Patienten möglicherweise nicht selbst in der Lage waren, auf die Missstände hinzuweisen. Die Beschwerdeführerin hatte die Mängel mehrfach ihrem Arbeitgeber angezeigt. Am Wahrheitsgehalt der Aussagen bestanden keine Bedenken, zumal der MDK die Verhältnisse bestätigt hatte.

Der EGMR hat hier die Interessen der Öffentlichkeit an Informationen über Mängel in der Pflege höher bewertet. Die demokratische Gesellschaft sei gerade an den Zuständen in der Altenpflege in öffentlich getragenen Pflegeheimen so interessiert, dass die Interessen des Unternehmens am Schutz seines Rufes und seiner Geschäftsinteressen zurückstehen müssten.

Schließlich war die fristlose Kündigung die härteste Sanktion. Aufgrund der Medienerstattung über den Fall könne dies abschreckende Wirkung auf andere Mitarbeiter des Arbeitgebers und sogar auf Mitarbeiter der gesamten Pflegebranche ausüben. Da von den deutschen Gerichten kein anderweitiger Ausgleich der Interessen der Arbeitnehmerin auf Freiheit der Meinungsäußerung herbeigeführt wurde, war auch aus diesem Grund die Kündigung ungerechtfertigt.